Das Füllfederhalter-Problem (Teil 2)

Das Füllfederhalter-Problem (Teil 2)

In der Hoffnung, dass der erste Gruß aus der Autoren-Küche geschmeckt hat, möchte ich jetzt den Hauptgang servieren. Bitte bringen Sie Ihre Sitze in eine bequeme Position und halten Ihr Lieblingsgetränk eng umschlungen. Wir haben mit dem Landeanflug auf des Füllfederhalters Lösung begonnen.

Apropos.

Ein Füllfederhalter ist übrigens ein tolles Geschöpf. Liebevoll abgekürzt einfach Füller genannt, formt er bereits seit dem 19. Jahrhundert aus Tinte die Wörter auf Papier. Oder, wenn es nach meiner Letztgeborenen geht, auch auf jeden alternativen Untergrund, wie Boden, Tisch oder Tapete. Wobei diese Malerei nur dann passieren kann, wenn wiederum die Erstgeborene den ständigen Wohnsitz des Federhalters, ihr Schulmäppchen, achtlos herumliegen lässt. Also quasi täglich.

Irgendwann im Laufe des zweiten Schuljahres hatte ich meine erste Füller-Begegnung. Gekauft hatten ihn meine Eltern im Laden um die Ecke. Als Kind dachte ich tatsächlich, „um die Ecke“ wäre der Name des Ladens. Den Erzählungen meiner Erziehungsberechtigten nach, konnte man bei „um die Ecke“ glattweg alles kaufen, was der Erdball hergibt. Füller, Fön, Fisch, Freizeitvergnügungsartikel. Und auch alles das, was nicht mit F beginnt.

Gemeint hatten sie damals den Laden von Conny, der zwar um die Ecke lag, aber nicht so hieß. Ob außen nun „Schreibwarenbedarf“ oder „Schreibwarenladen“ gestanden hat, gibt meine Erinnerung nicht mehr her. In jedem Fall war es gesetzt, dass man Anfang der Neunziger nebst Füllfederhalter alles dort einkaufte, was mit dem Thema Schule in Zusammenhang stand. Ein wenig vermisse ich dieses Geschäft. Der Geruch nach Büchern, Papier, Bastelkarton und Connys viel zu schwerem Parfüm ist fester Bestandteil meines Unterbewusstseins. Mit zarten zehn Jahren haben wir mit der Nase an der Plexiglas-Scheibe gehangen, hinter der die neuesten Modelle der Füller-Industrie professionell in Szene gesetzt wurden. Hell angestrahlt standen die tapferen schwarzen, blauen, silbernen und roten Handschrift-Soldaten mehr oder weniger 45 Grad geneigt nebeneinander. Getrennt durch eine durchsichtige Halterung aus Kunststoff, aber dennoch in der Sache vereint. Absolute Rockstars. Zumindest für mich.

Diesem Schreibgeräte-Mekka entsprang auch mein hölzerner Lamy-Füller mit farbiger Schutzkappe. Extra für Schreibanfänger. Eine Version, dessen Beliebtheit bis zum heutigen Tage nicht nachgelassen hat und die es demnach folgerichtig noch heute gibt. Dadboy wird diese Weihnachten den gleichen unterm Geschenkpapier entdecken. Nicht bei Conny gekauft, denn sie gibt es heute um die Ecke nicht mehr. Also, als Person existiert sie gewiss noch – nur eben ihr Schreibwaren-Laden nicht. Leider ist das auch nur eine logische Schlussfolgerung, denn Kinder, die sich für Füller die Nase platt drücken, sucht man in der Neuzeit ebenfalls vergebens.

Lasst uns eine kleine Schleife fliegen und damit gedanklich nochmal zurück in die Neunziger. Ohne Smartphone. Ohne Internet. Ohne guten Modegeschmack. Füllertechnisch war man entweder Lamy oder Pelikan. Mein Lamy begleitete mich viele Jahre treu ergeben. Aus der abgegriffenen Holzfassung wurde irgendwann schwarz-matter Kunststoff. Ein Füller-Traum ging damit in Erfüllung. Ähnlich sah das übrigens in der Scout-4You-Eastpak-Rucksack-Chronologie aus. Gekauft haben wir in Connys Laden. Ohne Qual der Wahl. Gezielt und einsatzorientiert, ohne großes Tamtam. Bis maximal 17 oder 18 Uhr war geöffnet, je nach Wochentag bzw. der Wetter- und Gemütslage. Es gab von den meisten Produkten genau zwei Modelle und jeweils vier Farben. Ende der Geschichte. Bin ich der einzige, der die Vorstellung entspannt findet, ohne diesen massenhaften Überfluss zu leben? Allgemein habe ich den Eindruck, dass wir Kinder der 90er glücklicher waren. Könnte das evtl. in direktem Zusammenhang damit stehen, dass wir weniger hatten und weniger manchmal tatsächlich einfach mehr ist? Die Fragen stapeln sich. Die Antworten muss sich jeder selbst geben.

Fliegen wir nun wieder ins Jahr 2019. Mit Smartphone. Mit Internet. Mit zahlreich ausgeprägten Modegeschmäckern. Lamy gibt es immer noch. Pelikan auch. Darüber hinaus noch zig andere Füller-Hersteller. Unzählbar sind auch die asiatischen No-Names, die via Amazon oder eBay nach wenigen Klicks den Weg zum neuen Eigentümer finden können. Um die Ecke kann man sie in der Tat auch noch kaufen. In einer nicht enden wollenden Flut verschiedener Geschäfte nämlich. Zum Beispiel in solchen, die sich nach außen hin als Drogerie tarnen und dies innen plötzlich nur noch zu einem kleinen Bruchteil sind. Eigentlich ist ein Füller gegenwärtig schlicht um jede weltweit existente Ecke herum käuflich zu erwerben. Mit dem Tor zur Internetwelt, das nahezu jeder inzwischen mit sich herumträgt, sogar zu jeder Tageszeit. Es sei denn, man hat gerade nur Edge, was von der Aussprache „Ätsch“ ähnelt und daher passenderweise so viel wie „Angeschmiert!“ bedeutet – ihr kennt das. Dadgirl1 hat meist auch nur schlechten Empfang, wenn ich sie an das Mäppchen oder die 43 anderen herumliegenden Dinge erinnere. Kurzum: Artikelorientierte Grenzenlosigkeit überall. Das Vorhandensein eines Schreibwarenladens á la Conny ist mittlerweile so selten wie Schnee an Heiligabend.

Und genau HIER ist die Wurzel allen Übels im 21. Jahrhundert zu finden. Das Problem-Mutterschiff. Die Büchse der Pandora.

Die Welt ist so rasant geworden. Pause machen, mal anhalten, rasten, das kennt sie nicht mehr. Gefühlt dreht sie sich immer schneller. Dreht und dreht sich. Immer schneller und schneller. Nächste Runde rückwärts. Wir, die Erwachsenen, brauchen schon täglich genug Erdanziehung, um auf dem Boden zu bleiben. Täglicher Kampf gegen die Zentrifuge, die uns, angestachelt von der immer weiter erhöhten Geschwindigkeit, aus der Bahn zu werfen droht. Wenn das mein alter Physiklehrer jetzt lesen könnte. Damals in der 12. habe ich ihm nicht geglaubt, dass die Kinematik als Lehre der Bewegung ein wichtiges Thema ist. Glaube ich ihm auch immer noch nicht. Jedem physikalischen Zusammenhang zum Trotz – wo wird das enden? Wer ruft als erster, dass man doch bitte die Welt anhalten soll, weil man aussteigen will? Oder hat die Welt einfach vor uns Menschen keine Lust mehr auf diese wilde Fahrt? Bitteschön, noch mehr Fragen für den Stapel.

Münzen wir das jedoch mal auf unsere Kinder um. Wie muss das heutzutage bloß für die laufenden Meter im Kindergarten sein? Wie für den Meter-Dreißig in der Grundschule? Und wie für die Anderthalbmeter im Gymnasium? Ich glaube, im Kindergartenalter bietet die Kleinkinderhülle genügend Schutz vor der schnelldrehenden Welt. Das eigene Ich noch nicht realisierend, lebt es sich vermutlich gelöster und entspannter. Alles, was danach kommt, ist anfälliger. Anfällig für das Tempo da draußen. Es wundert mich wiederum keinen Meter, dass jeder Zehnte Fünfzehnjährige in Deutschland nicht richtig lesen kann. Oder dass wir allgemein so schlecht bei der berüchtigten Pisa-Studie abschneiden.

Wie soll es auch anders sein?

Die Hauptdarsteller stecken fest in einem Korsett von Leistungsdruck, Regelsystemen, gesellschaftlichen Grundsätzen, massenhafter Reizüberflutung und Überlastung. Lehrer gleichermaßen wie die Lehrempfänger. Die Lehrer sollen Modeerscheinungen wie „Schreiben nach Gehör“ mit staubigen Dogmen aus der Zeit der Preußen vereinen. Und das schimpft sich dann auf weniger schlau „Lehrmeinung“.

Schreiben nach Gehör – dieses abscheuliche, beispiellos haarsträubende Gebilde unfassbaren Versagens sogenannter Bildungspolitiker, die den Ton angeben. Entwickelt von einem geistig beschränkten Heilsbringer, der vielen Generationen damit mehr geistige Beschränktheit als echtes Heil serviert hat. „Korrigieren Sie bitte Ihre Kinder auf gar keinen Fall! Egal wie falsch das Wort auch geschrieben sein sollte“, diktierte die Grundschullehrerin allen Anwesenden des Elternabends. „Wenn Sie das tun, greifen Sie negativ in die Schreibentwicklung des Kindes ein!“. Im festen Glauben, dass bei der Lehrerin Alkohol im Spiel sein musste, weigerte ich mich mit einem Finger gewissenhaft aufzeigend, diesem strunzdoofen Befehl auch nur annähernd zu folgen. Ich korrigiere meine Kids vom ersten Tag an. Und das ist auch gut so. In der Zwischenzeit hat auch das Land NRW erkannt, dass man komplette Jahrgänge mit diesem System vor die Wand gefahren hat. Eine Entschuldigung dafür gab es allerdings nicht.

Unsere Kinder sollen gesellschaftlich getrieben täglich auf so vielen Gebieten Höchstleistungen vollbringen. Eine Gesellschaft, zu der am Ende des Tages jeder von uns gehört. Auch du, lieber Leser (m/w/d). Und selbstverständlich auch ich. Das alles fatalerweise in einer Welt, die derweil Pi mal Daumen über fünfzehn verschiedene Füller-Marken zu bieten hat. Eine Welt also, die schon bei so einfachen Dingen wie einem Füllfederhalter von Überfluss und unendlichen Weiten regiert wird. Armer, kleiner Schreibsoldat. Was hat man bloß mit dir gemacht?

Verordnen wir unseren Kindern doch einfach mal etwas seelische Windstille. Vielerorts umgangssprachlich auch schlicht Langeweile genannt. Unsere Kinder brauchen gezielt animationsfreie Phasen, um sich weiterzuentwickeln. Denn nur dann kann frischer Wind aufziehen, der die Weiterfahrt ermöglicht. Vielleicht nehmen wir sie einfach mal zur Seite und erzählen ihnen von unserem Füller-Erlebnis aus der Kindheit und wie schön eine Kleinigkeit sein kann, die uns auf Lebzeiten geprägt hat. Denkt mal drüber nach.

Danke fürs Mitfliegen.

David

David

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