Tag 2 – Lockdown NRW – 12.01.21

06:12 Uhr
Bin seit 30 Minuten wach, aber erst vor drei Minuten aufgestanden. Dreimal Snooze á neun Minuten, ihr wisst schon. Dreimal neun ist 27, sagt mein Grundschul-Mathe-Gehirn. Einreichen bis 18 Uhr, bitte! Als eingescanntes Word-Dokument im PDF-Format. Mit Schleifchen. Hurtig, hurtig! Versuche meine Gedanken auf der Treppe auf dem Weg nach unten abzustellen. Klappt sehr gut, also das Treppen herabsteigen. Die Katze kommt mir im Flur entgegen, miauend in einer Lautstärke, die einen startenden Flugzeug gleicht. Sie hat Hunger. Hatte sie doch gestern Abend zuletzt, denke ich und trete ihr unabsichtlich auf die linke Pfote. Sie startet wie ein Flugzeug die Flurwand hoch. Das miauen verstummt.

Bin inzwischen an der Kaffeemaschine angekommen und drücke erprobt den Knopf, der die Lieblingsmische gespeichert hat. Während sie brummt, beobachte ich das Schneetreiben draußen. Tiefe Furchen erster Autoreifen, vermutlich 10 bis 15cm tief, bahnen sich ihren Weg über die Straße. Winter-Wonder-Land, so schön, denke ich. Ich gucke ein zweites Mal hin – scheisse, es hat scheisse viel geschneit!!! Was soll das?

06:27 Uhr
Stehe im Schnee. Bewaffnet mit zwei Schaufeln. Und fehlender Motivation. Ich wünsche mir eine Schneefräse herbei, um die relativ steile Auffahrt zum Leidwesen der Nachbarn mit ohrenbetäubendem Lärm frei zu fräsen. Mein Wunsch bleibt unerfüllt. Ich schüppe 25 Minuten und einen Hauch von einem hypoglykämischen Schock entfernt die Einfahrt frei. Ich brauche Zucker. Jetzt eine Banane! Wo sind eigentlich die Bananen, wenn man sie mal braucht? Vermutlich in Monokulturen auf irgendwelchen Plantagen, darauf wartend, in quaderförmigen Stulpschachteln verpackt zu werden, antwortet mein Biologie-Gymnasium-Gehirn. Hahahaha!

Ich bin fertig.
Nicht mit der Einfahrt.
Mit den Nerven.
Noch nicht mal sieben Uhr.

07 Uhr
Ich stehe im Badezimmer und lausche dem Gesang des Föns, der die Haare meiner Frau trocken pustet. Ich genieße die Ruhe. Der Fön geht aus. Ich höre eine Toilettenspülung. Der Sohnemann ist wach. Und mit ihm sein Stoffwechsel. Zähneputzend wecke ich die Tochter, was ich vor dem Schnee-Workout bereits ohne Zahnbürste zweifach getan hatte. Sie schält sich aus dem Bett. Wie eine Banane, denke ich. Ruhe, Gehirn!

07:45 bis 12:00 Uhr
Ich lese 47 Emails, schaue im 30minütigen Takt bei der Großen vorbei und crashe mindestens zwei Teams-Sitzungen, indem ich unbeholfen ins Bild laufe. Wir haben nun Handzeichen ausgemacht, die simpel anzeigen, ob Kamera bzw. Mikrofon aus oder an sind. Ich sitze in eigenen Teams-Sitzungen, durchforste unmenschlich große Tabellen, erkläre dem Sohnemann zwischendurch, was ein Quirl, ein Quartett und ein Quader ist. Qu ist im Fach Deutsch an der Reihe. Quälerei. Ich telefoniere, ganz herkömmlich, nicht online, mit diesem Ding, das Smartphone heißt. Mein linker Bluetooth-Kopfhörer ist leer. Ein sehr einseitiges Telefonat. Die Große platzt explosionsartig ins hauseigene Büro und fragt, während ich vor lauter Schreck mit einem mittelschweren Herzanfall kämpfe, was es zu Mittag gibt. Lebensmittel, warm, antworte ich ihr. Sie ist zufrieden. Besser als kalt, sagen ihre Augen. So quälen wir uns durch den Vormittag. Fühle mich wie Sisyphus, der zur Strafe auf ewig einen Felsblock einen Berg hinaufwälzen muss.

12:15 bis 17:15 Uhr
Habe mich umgezogen. Übergebe den Staffelstab an meine Frau, die aus dem Büro kommt. Ein Kuss ist noch drin. Dann muss ich los. Mit frischem Hemd fahre ich ins Office, ohne Home. Habe einen Vor-Ort-Termin, der seines Namens entsprechend nur vor Ort wahrgenommen werden kann. Mein erster seit Monaten! Seit Monaten keine Dienstreise mehr. Keine lange Autofahrt. Kein Flug. Keine Spesen. Im Büro angekommen, esse ich ein Snickers aus der Kantine, weil sie keine Bananen mehr hatten. Ich wähle mich zum 13 Uhr-Termin pünktlich ein, obwohl ich mich erst um 12:59 Uhr hingesetzt hatte. Noch die Jacke, den Schal und den Gesichts-Schlüpfer an. Ich ziehe den Schlüpfer aus. Schon wieder das Biologie-Gehirn. Vielleicht schicke ich meiner Frau später eine Einladung zu einem „In-Team“-Meeting, denke ich. Schlüpfrig! Ich lache. Die Sitzung beginnt. Es folgen noch zwei. Noch mehr Emails. Viele Telefonate. Mit einem Festnetz-Telefon. Mit echten Tasten. Wie oldschool. Ich hetze durch meine Themen, ohne mich wirklich zu bewegen. Will mir einen Kaffee ziehen. Ein Menschenfreund von der vierten Etage hat um 15:30 Uhr alle waschbaren Senseo-Teile in die Spülmaschine gesteckt, die freudig wäscht, während ich weinend davorstehe. Was soll das?

Party-Evening, sagt mein Englisch-Gehirn.
Feierabend.

Ich fahre zum Rewe und hole tanzend die vorbestellten Waren an der Abholkasse ab. Es hat beinahe etwas Entspannendes. Ich liebe die digitale Revolution.

17:58 Uhr
Ich komme zu Hause an. Meine Frau sieht aus, als bräuchte sie ein Glas Weinschorle. Ohne Schorle. Sie hat geputzt, mit dem Abendessen angefangen, die Hausaufgaben des Sohnemanns nachgeschaut (die dreimal „alle fertig“ und dann doch irgendwie „nie fertig“ waren). Ich decke den Tisch, trage dabei die Zweijährige auf dem Arm. Sie heult, weil sie nicht umrühren durfte. Umrühren, das Abendessen, bei dem es nichts zum Umrühren gab. Während das Abendessen vor sich hin kocht, räumen wir die Lebensmittel weg, die irgendwann auch kochen werden. Ich habe Bananen gekauft. Fünf Stück.

Es gibt Abendessen.
Irgendeiner weint.
Glaube, die Allerkleinste.
Bin mir unsicher.
War auf Kurzurlaub in den Augen meiner Frau.
Zuversicht drücken sie aus.
Aber auch Überbelastung.
Wärme.
Aber auch dünne Nerven.

Jetzt nur noch abräumen.
Die Kleine ins Bett.
Die Großen ins Bett.

Ich schreibe diesen Text zwischen Tür und Angel. Bin stolz, so schnell schreiben zu können. Die Kinder nerven mich, dass ich beim Abräumen helfen soll. Ich schmiere sie mit jeweils zwei Euro.

Wir sind fertig.
Der Text auch.

Die Großen legen sich hin.
Morgen Abend machen wir einen Spieleabend, versprach ich ihnen. Total analog. Ohne Technik. Ganz simpel.

20:10 Uhr
Meine Uhr meldet, dass ich alle drei Fitnessziele geschafft habe.
Ich werde noch etwas herumräumen und diesen Text hochladen.

Dann wartet die Couch.
Das letzte bisschen Freiheit.
Und Freizeit.

Wir werden etwas Süßes schnucken, entscheide ich ohne meine Frau.
Es gibt Bananen.

David

Related Posts

Dadman-Jahresrückblick

Dadman-Jahresrückblick

Herbstferien, Virus und Weltuntergang

Herbstferien, Virus und Weltuntergang

Ein paar Monate, ein Virus und eine Famile später.

Ein paar Monate, ein Virus und eine Famile später.

Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung

Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung

No Comment

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert